Seit kurzem wurde bekannt, dass die Einwanderer über fünfzig Jahren in diesem Land sind. In diesen fünfzig Jahren haben nicht nur dieses Land, sondern auch die Einwanderer etliche Prozesse, Entwicklungen, Rückschritte, Neuigkeiten und Wiederholungen erlebt und hinter sich gelassen. Es war voraussehend, dass es ausgerechnet in Hamburg die ersten Beispiele der Einwandererliteratur geben musste. Nicht nur weil diese Stadt eine Hansestadt ist, sondern auch wegen ihrer historischen Wurzeln, die sich an der Offenheit ihrer Tore lehnt. Also war und ist Hamburg immer noch kosmopolitisch. Was für ein Glück?

 

            Wann die Einwanderer erst in dieser Stadt kamen, ist heute nicht mehr so wichtig. Wichtig ist mittlerweile, dass ihre dritte bzw. vierte Generation hier aufwächst und unter uns lebt. Manche leben mit ihrer Muttersprache, manche leben mit der deutschen Sprache. Die Literatur ist ein Lebensweg. Ein kulturelles Bedürfnis, eine Bemühung den Alltag zu verschönern, die auch als eine ehrenamtliche und einseitige Liebe bezeichnet werden kann. Es ist der Hunger nach Schönheit, nach Erzählungen oder nach Prosa aus der Vergangenheit. Diese verschiedenen Beschreibungen passen auch zu den Definitionen der Einwanderer. In diesen fünfzig Jahren kamen die unterschiedlichsten Menschen in die verschiedensten Kreise diese Stadt.

 

            Offen gesprochen, sind in diesen halben Jahrhundert etliche Einwanderer wegen vielen Militärputschen ausgewandert. Wegen einem Kurdenkrieg, der bis heute tagtäglich Menschenleben fordert und kostet. So viele, Tränen, Trennungen, Leiden, Tote und Hoffnungen. Dies und noch viel mehr prägte das Unterbewusstsein der Einwanderer. Es hat natürlich ewig gedauert, bis etwas geschrieben werden konnte, weil dafür die geistige Reife und die passenden Umstände fehlten, wegen den Hintergrundgeschehnissen. Als es endlich so weit war, kamen aus allen Ecken erst die Gedichten, Erinnerungen, Autobiographien, Kurzgeschichten, Essays, Erlebnisse, Kommentare und Glossen. Fast zeitgleich kamen auch deren Medien. Weil sie die einheimische Medienlandschaft und Kulturkreise durch ihr kulturelles Erbe selbstverständlich ignorieren und übersehen mussten, machten diese Menschen ihre Sachen selbst.

 

            Sie wurden in die Discos nicht reingelassen, also wurden eigene Discos erfunden. Radiosender wollten von denen nichts wissen, allein in dieser Stadt senden mehr ein halbes Dutzend türkischer Radiosender ihre täglichen Programme. Auch eigene Hochzeitsfeiern, Moscheen, Vereine, Kneipen, in letzter Zeit sogar Schulen, und auch die Literatur wurden eingeführt.

 

            Wenn Menschen ignoriert werden, obwohl sie da sind und existieren, antworten diese unweigerlich mit der Selbstverteidigung. Hier geht es ums Überleben. Unter ähnlichen Entwicklungen begann die Einwandererliteratur in Deutschland fast zeitgleich auch in Hamburg. Es ist nicht nur interessant, sondern auch fragwürdig, warum diese Menschen statt auf Deutsch sich mit ihrer Muttersprache ausdrücken wollen, etwas von sich geben wollen, erzählen, eine ganz andere Welt und Bild darstellen wollen. Ein Thema, was die Literaturwissenschaftler für lange Zeit beschäftigen wird. Es ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache, dass allein in Hamburg zur Zeit über dreißig Schriftsteller aus der Türkei leben, die türkisch oder kurdisch darunter auch gelegentlich auf deutsch schreiben. Die Frage sollte nicht lauten wofür sie schreiben, sondern worüber?

 

            Die Beobachtungen, Untersuchungen, Recherchen und eigene Erfahrungen zeigen wie reich, wie fruchtbar dieser Boden für Einwandererliteratur ist. So viele Einwandererautoren hat kein anderes Bundesland. Sie sind nur noch nicht für die Literatur organisiert. Diese benötigen zwar noch ihre Reife, aber eins muss gesagt werden: Diese Menschen schreiben für diese Stadt, aus dieser Stadt, über diese Stadt. Das macht selbstverständlich das Hamburger Kulturleben viel reicher, schöner und vielfältiger. Viele unter ihnen interessieren sich immer noch für die Politik in der Heimat, die sie vor  zehn-fünfzehn Jahren verlassen haben. Mit dem “damaligen Kopf” versuchen sie die heutiger Tagesordnung zu verstehen. In vielen Fällen gelingt es denen allerdings nicht.

 

            Hamburg ist eine vielseitige Stadt. Dieses Bundesland in Deutschland sollte eigentlich verstehen wie wichtig diese Menschen für die Integration, für die moderne deutschsprachige Literatur und für das  kulturelle Leben dieses Landes sind. Seit mehr als fünfzig Jahren versuchen die Politiker, dass die Einwanderer und Einheimischen sich annähern. Können Sie irgendwelche Erfolge beocbachten? Nein. Aber etwa fünf übersetzte literarische Bücher können etliche falsche Bilder und so viele Vorurteile in den Köpfen der Einheimischen entfernen!

 

            Diese Autoren leben unter miserablen, sogar unter fast unmenschlichen Umständen, aber gerade die Liebe zum Schreiben und auch die Literatur erhält uns aufrecht. Andersherum sieht so ein Leben so eintönig und unerträglich aus. Wie falsch und absurd das Dasein ohne eine literarische Welt und ohne Bücher ist. Gegenwärtig begegnen wir im Kulturkreis den Einwanderern in etlichen lokale Medien, die in der Zukunft für die Entwicklung der Einwandererliteratur eine große Rolle spielen werden. Es gibt in Dichterkreisen so viele Poeten, die noch nicht zusammengekommen sind, dennoch schafft es immer einer hier und da ein neues Buch herauszubringen. So viele Radiosender, so viele Kulturvereine, die potentielle Leserkreise bilden. Ein Club der kurdischen Schriftsteller und Künstler, Hamburger Literaturwerkstatt, eine Frauengruppe, die gute Kurzgeschichten schreiben können und einzelne Kämpfer, darunter meine Wenigkeit. All diese zerstreuen so viele Hoffnungen und starker Optimismus. Denn die heutige Helligkeit und Wärme ist viel stärker als vor  zwanzig Jahren.

 

            Uns brachte die Welt einfach die Ignoranz und Arroganz der Hochnäsigen, die eitlen Blicke und Köpfe derer, die uns unterschätzen und uns nicht als Hamburger einsehen, obwohl wir uns längst so bezeichnen. Wir bezeichnen diese alten Hamburger als “Damaligen”, denn auch deren Literatur wird zur Vergangenheit. Hamburg ist eine Weltstadt. So lange sich dies in der Literatur  nicht wiederspiegelt, ist es eine Lüge von vielen üblichen, über die wir uns köstlich amüsieren. Diese Stadt und deren “damalige” Literaten werden akzeptieren und annerkennen, dass wir in unserer Muttersprache auch hier, für diese Stadt und deren Bewohner, Literatur machen können. Beweise wollen Sie? Schauen Sie sich um! Fast in jedem Bezirk werden Sie ein paar Einwandererautoren finden!

 

            07.02.2013