Die europäischen Länder, in denen EinwandererInnen aus der Türkei leben, sind froh, dass am 31.03.2019 in der Türkei nur die Kommunalwahlen stattgefunden haben.
Die EinwandererInnen, die aus der Türkei kommen, sind genau so wie die in der Türkei lebenden Menschen gespalten. Sie haben sogar im Rahmen der kürzlich erfolgten Kommunalwahlen sich weiter spalten lassen. Sie sind seit mehreren Monaten nur mit dem Thema türkische Kommunalwahl und wer darf und wer darf nicht gewinnen, beschäftigt. Die Spaltung der türkischstämmigen Gesellschaft ist sehr vorangeschritten. Sie gehen sogar in getrennte Moscheen, um ihren religiösen Pflichten nachzugehen. Nicht nur die Religionshäuser bzw. Moscheen sind getrennt. Man geht auch in unterschiedliche Teehäuser, Shihabars oder andere Lokalitäten, die den jeweiligen Parteien, Organisationen oder anderen Gesellschaften in der Türkei zugeordnet sind. Ein Spiegelbild aus der Türkei sozusagen.
Angesichts der ca. 3.000 km Entfernung zwischen der Türkei und Deutschland, die zwischen den hier lebenden türkischstämmigen EinwandererInnen und den in der Türkei lebenden Menschen liegen, ist ein solches Verhalten aus hiesiger Sicht nicht nachvollziehbar.
Die hier lebenden EinwandererInnen aus der Türkei sehen nicht, dass die türkischen Kommunalwahlen für sie nichts bringen. Hingegen finden in Europa am 26. Mai 2019 Europawahlen statt. Durch den Ausgang dieser Wahlen können sich rechtliche Änderungen für den Lebensmittelpunkt der EinwandererInnen ergeben. Das interessiert sie aber überhaupt nicht. Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass die Europawahlen stattfinden werden. Wenn man dieses Desinteresse an den Europawahlen mit dem Interesse an türkischen Kommunahlwahlen vergleicht, kommt man nicht umhin, zu fragen, ob ihnen nicht bewusst ist, wo ihr Lebensmittelpunkt liegt.
In Gesamteuropa leben ca. 7 Millionen EinwandererInnen aus der Türkei. Ein Teil von ihnen besitzt die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes, ein nicht unerheblicher Teil besitzt die Staatsbürgerschaft aus Deutschland oder eines anderen europäischen Staates und ein anderer Teil besitzt sogar die doppelte Staatsbürgerschaft. Besitzen sie deutsche oder europäische Staatsbürgerschaften, das bedeutet dann, auch Verantwortung übernehmen, die demokratische, menschenrechtliche und wirtschaftliche Entwicklung hier vor Ort mitgestalten.
Freilich sind die Türkischstämmigen in der EU recht ungleich verteilt. Die meisten, ca. 3 bis 3,5 Millionen leben in Deutschland. In Frankreich leben ca. 900.000 Tausend bis 1 Million, in Bulgarien leben rund 800.000 Tausend. Darüber hinaus gibt es türkisch-kurdische Gemeinschaften im Vereinigten Königreich, nämlich ca. 500.000 Tsd., in den Niederlanden ca. 480.000 Tsd., in Österreich ca. 360.000 bis 500.000 Tsd. und Griechenland etwa 350.000 Tsd. Auffallend kleiner sind dagegen die türkischen und kurdischen Communities in Italien mit etwa 20.000 Tsd., in Polen mit 3.300 und in Portugal mit ca. 700, wobei es sich bei den letzteren beiden nur um türkische Staatsbürger handelt.
Europa muss auch angesichts dieser EinwandererInnen, die nicht eine unerhebliche Zahl ergeben, der türkischen Regierung Druck machen, um die Kopenhagener-Kriterien zu erfüllen. Eurpa muss eine klare Aussage abgeben, dass bei Erfüllung dieser Kriterien eine Vollmitgliedschaft auf jeden Fall in Frage kommt. Eine klare Perspektive ist sehr wünschenswert. Im EU-Parlament zeichnet sich jedoch eine Mehrheit für den Stopp der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ab. Dieser Schritt mag auf den ersten Blick angemessen erscheinen. Tatsächlich wäre er kontraproduktiv.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner Partei AKP fährt einen sehr harten innenpolitischen Kurs und macht damit einen Beitritt der Türkei in die EU immer unwahrscheinlicher. Die Zukunft des Landes bleibt ungewiss. Die Aufhebung demokratischer Werte und Normen schreitet unaufhörlich voran, die Menschenrechte wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit aber auch die Ausbildungs- und Berufsfreiheit werden nach und nach außer Kraft gesetzt. Die Medien sind gleichgeschaltet. Ca. 95 % der Medien-, Presse-, Rundfunk- und Fernsehanstalten sind gleichgeschaltet und unter AKP-Kontrolle. Gemeine Bürger des türkischen Staates, Oppositionelle und mit Terrorismus Beschuldigte, die offen Misstände anprangern, werden als Terroristen beschimpft, beschuldigt und rechtlich verfolgt. Sie müssen, wenn sie es schaffen, aus dem Land flüchten. Die Fluchtwelle nimmt zu. Diese Menschen werden nach Europa flüchten. Europa muss ihnen Schutz anbieten. Das widerum wird in Europa erneut oder zu extremeren Debatten über die Flüchtlingsproblematik, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismuss führen. Ist das von Europa gewollt?
Es ist unseres Erachtens falsch, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei endgültig zu beenden.
Den demokratischen Kräften in der Türkei sollte man die Tür nicht verschließen. Europa sollte der undemokratischen Politik der türkischen Regierung und der dadurch bedingten Spaltung der Bürger bzw. Gesellschaft entgegensetzen. Wenn das nicht geschieht, so werden die hiesigen Probleme mit EinwandererInnen und Flüchtlingen ebenfalls nicht gelöst werden.
Nach der Weigerung der türkischen Behörden, mehreren deutschen Korrespondenten die Arbeitsgenehmigungen zu verlängern, warnten Außenpolitiker vor Reisen in das Land. Der frühere Bundesvorsitzende der Grünen Cem Özdemir hatte im Deutschlandfunk Radio gesagt: “Keine/keiner ist in der Türkei sicher, weder Deutsche noch Nichtdeutsche. Das ist ein Willkürstaat.“
Der Wirtschaft in der Türkei geht es derzeit sehr schlecht. Die Inflation liegt bei ca. 20 %. Die Arbeitlosigkeit ist sehr hoch. Nach den Wahlen wird sich die Situation wahrscheinlich verschlimmern. Jedenfalls hat die türkische Lira wieder an Wert verloren. Wie eine solche die Bevölkerung sehr belastende Situation sich entwickeln wird, ist sehr ungewiss.
Diese politischen, wirtschaftlichen und arbeitsmarktlichen Entwicklungen in der Türkei belasten die EinwandererInnen aus der Türkei nicht, weil ihr Lebensmittelpunkt in Deutschland bzw. in Europa ist und für sie die dort geltenden politischen und wirtschaftlichen Werte gelten, für die sie sich aber nicht einsetzen, engagieren oder zu interessieren scheinen. Sie müssen darauf sensibilisiert werden. Eine Willkommenskultur muss in allen Bereichen der Gesellschaft erreicht werden, damit sie sich als Teil und Mitbestimmer der hiesigen Gesellschaft sehen können. Die EinwandererInnen aus der Türkei aber auch aus anderen Ländern müssen sich dafür einsetzen, der gesellschaftlichen Spaltung Einhalt zu gebieten und Interesse für eine Integration zeigen. Die hiesige Gesellschaft muss sich noch öffnen, Ängste vor Fremden bzw. Fremdsein abbauen und Möglichkeiten der Integration und Mitbestimmung einräumen. Verbände, Parteien, Behörden, Medien, Vereine, Stiftungen, Gemeinden etc. sollten sich öffnen und die „Fremden“ nicht mehr als „Fremde“ sehen, sondern als ein Teil von sich sehen und sie bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mitwirken lassen und ihnen Rechte und Pflichten einräumen aber auch auferlegen. Die Devise sollte in Europa im weiteren und in Deutschland im engeren Sinne Verantwortung übernehmen und Mitbestimmen sein.