Willy Brands Kniefall und eine Gesellschaft ohne Zäsuren

Das Märchen von der wundersamen Wandlung Deutschlands

Es ist eine menschliche Eigenschaft, dass die Erinnerung an Vergangenes mit der Zeit allmählich nachlässt; der kollektiven Erinnerung ergeht es genauso. Um an wichtige Ereignisse und Personen in der Geschichte einer Nation zu erinnern, werden Denkmäler und andere Monumente errichtet. Staaten bzw. Regierungen selektieren das, was aus ihrer Sicht erinnerungswürdig ist; die unrühmlichen Ereignisse und Personen der eigenen Geschichte werden verdrängt, vergessen oder geleugnet.

Die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich und politisch dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte war eine schwierige gesellschaftliche und politische „Herausforderung“ nach dem 2. Weltkrieg, denn viele hatten sich in irgendeinem Maße an den Verbrechen beteiligt oder hatten zumindest geschwiegen und weggeschaut bzw. ihre Augen verschlossen.. Aber unzählige Täter Mitläufer und Anhänger des Hitlerfaschismus hatte Glück: Kurz nach Kriegende begann der der Kalte Krieg; auf der Tagesordnung stand nun nicht die Auseinandersetzung mit der verbrecherischen Vergangenheit, sondern der anti-Kommunismus. Der Wiederaufbau des Landes, das „Wirtschaftswunders“  beschäftigte die Menschen mehr als ihre jüngste Vergangenheit.

Eine nennenswerte Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Hitlerfaschismus begann erst ab Ende der 60er Jahre.  Der Kniefall von Willy Brand am 7. Dezember 1970 vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettos hinterließ in der internationalen Öffentlichkeit den Eindruck, die Deutschen seien ihrer Verantwortung und Schuld bewusst und würden sich mit den Verbrechen des Hitlerfaschismus offen und kritische auseinandersetzen.

Willy Brands Kniefall war sicherlich nicht nur Ausdruck einer Demutsbekundung für die Opfer des Faschismus. Er empfand die Verbrechen, die im Namen des deutschen Volkes verübt wurden, als eine Schande für sein Volk.  „Wenn dieser […] für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabeigewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“[1]

Schande zu empfinden ist eine menschliche Eigenschaft. Für viele Deutsche war eine solche Empfindung trotz des unglaublichen Ausmaßes der Verbrechen des deutschen Faschismus weiterhin fremd: Nach einer Spiegel-Umfrage fanden 48% Prozent der befragten Bundesbürger die Geste des Kanzlers für übertrieben.[2]

Es vergingen über 50 Jahre, bis 1996 der 26. Januar offiziell zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“  wurde. Der Prozess des Erinnerns, Gedenkens und der Aufarbeitung der Verbrechen des deutschen Faschismus ist bei genauerer Betrachtung somit sehr zögerlich und schleppend verlaufen. Je größer der zeitliche Abstand wurde, desto mehr kamen Gleichgültigkeit, Desinteresse und Vergessen hinzu.

Die 1979 in Deutschland ausgestrahlte vierteilige US-Filmserie „Holocaust“ bildete ein wichtiges Medienereignis, das zu einer breiten kontroversen Diskussion führte. . Zehn bis fünfzehn Millionen Zuschauer hatten sich damals die Folgen der Serie angeschaut. Der Politologe Peter Reichel nannte die Ausstrahlung der Serie als „den Beginn der Bereitschaft nun auch eines Massenpublikums, sich mit der NS-Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen“.[3]  Eine Einschätzung, die sich im Nachhinein als sehr optimistisch erwiesen hat.

Eine Gesellschaft ohne Zäsuren

Dass es 1945 bzw. 1949 einen Neuanfang in der deutschen Geschichte gegeben hätte, dass eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Hitlerfaschismus erfolgt sei usw. entspricht nicht der Realität. Hinzu kommt, dass der politischen Elite in der Bundesrepublik Deutschland – teilweise aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik – zahlreiche Personen angehörten, die vor 1945 Teil des faschistischen Herrschaftssystems waren.[4] Doch vielleicht noch beängstigender ist, dass die vielen „einfachen“ Mitglieder oder Anhänger der NSDAP und die unzähligen Mitläufer auf einmal ganz normale Bürger der BRD oder DDR wurden.

Gebetsmühlenartig versichern Politiker bei Gedenkveranstaltungen, dass Deutschland sich seiner historischen Verantwortung bewusst sei und alles getan werde, damit auch zukünftige Generation sich an dem Holocaust und andere Verbrechen des deutschen Faschismus erinnern. Doch die bittere Realität sieht anders aus: Der ehemalige  Bundespräsident Horst Köhler kritisierte 2009 die Wissensdefizite der jungen Generation über den Holocaust und das Nazi-Regime.[5]Es stellt sich jedoch die Frage, warum es so ist und ob denn die ältere Generation sich vorbildlich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und Lehren daraus gezogen hat.

Im Bewusstsein der „breiten Öffentlichkeit“ bleiben irgendwann nur zwei Niederlagen in zwei Weltkriegen. Dass der deutsche Militarismus und Rassismus während dieser Kriege grauenvolle Verbrechen an bestimmten Bevölkerungsgruppen verübt hat, wird immer mehr ausgeblendet. Dabei ist das Besondere am 2. Weltkrieg, das es nicht nur um die Vorherrschaft über andere Länder und Völker ging, sondern um die Vernichtung ganz bestimmter Menschen und Gemeinschaften, insbesondere der Juden. Der vom Hitlerfaschismus entfachte 2. Weltkrieg war kein „normaler“ Krieg, die Wehrmacht keine „normale“ Armee, der Feldzug gegen die Sowjetunion war nicht zu vergleichen mit dem Feldzug Napoleons gegen Russland. Die Verbrechen der Wehrmacht waren lange Zeit nicht thematisiert worden. Dies geschah erst 1995 mit der „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung.

Die wütenden Reaktionen seitens  national-konservativer und faschistischer Kreise verdeutlichen erneut die Grenzen der Erinnerungskultur in Deutschland: an die zahlreichen Verbrechen der Wehrmacht soll nicht erinnert werden! Dass es bis heute in der Bundeswehr eine starke Tendenz in der Tradition des deutschen Militarismus gibt, kann somit nicht überraschen.

In Deutschland hat es nie eine erinnerungsgeschichtliche Zäsur oder einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel gegeben. Vielmehr besteht eine Kontinuität von der Reichsgründung 1871 zur faschistischen Herrschaft 1933-45; und die Entwicklung nach 1945 zeigt, dass der unheilvolle deutsche Leitgeist nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus nicht aus den Köpfen verschwunden ist.

[1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43822428.html

[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43822427.html

[3]https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_%E2%80%93_Die_Geschichte_der_Familie_Weiss

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_t%C3%A4tig_waren

[5] http://www.tagesspiegel.de/politik/gedenkfeier-koehler-kritisiert-fehlende-holocaust-kenntnisse-der-jugend/1429776.html