Meine Eindrücke im Franz Kafka Museum

Ich steige die Treppe hinauf und lande plötzlich in düsteren Straßen. Hinfallen... In die Tiefe fallen kann tiefe Wunden verursachen. Ich besuche nämlich an diesem Nachmittag nicht nur eine Ausstellung in einem Museum in Prag, sondern die tiefe Innenwelt eines weltbekannten Schriftstellers Namens Franz Kafka.

Städte Bau

(der Bau im 1924)

Prag ist die Stadt, in der Franz Kafka geboren wurde. Er studierte und arbeitete dort. So steht es auch in den verdunkelten Räumen des Museums an der Wand, „Es kamen einige Leute zu ihm und baten ihn, eine Stadt für sie zu bauen.“ Er erbaute sie höchst wahrscheinlich zunächst in seiner Phantasie, die mit seiner Innenwelt eng verwandt besser: verbunden gewesen ist. Neugierig suche ich trotzdem nach den Spuren eines Baus, den er im Jahre 1924 nieder schrieb. Ein Zitat aus diesem Buch findet sich ganz tief unter einer Treppe. Um es zu erreichen steige ich die Treppe wieder herunter. Ich lese:

Dein Haus ist geschützt, in sich abgeschlossen, lebst in Frieden, warm, gut genährt, Herr alleiniger Herr über eine Vielzahl von Gängen und Plätzen.“

Ich versuche die abstrakte Botschaft in diesem Zitat zu verstehen, ohne das Buch Der Bau gelesen zu haben.

Ob alles, was er schrieb, mit seiner Lebensgeschichte zu tun hatte?

Vater an der Wand

(Briefe an den Vater, 1919)

Es ist ein Nachmittag und ziemlich dunkel (hier). Ich spaziere in den düsteren Straßen des Museums, dessen Pflastersteine aus Weltschmerz und ihre Laternen aus lichtlosen Hoffnungen gebastelt sind. Es hämmert. Dabei sind kurze unheimliche Schreie von unsichtbaren Wildvögeln zu hören. Ich lese an den Wänden die Briefe eines jungen Mannes, der sich in jedem Satz mit seinem Vater auseinander setzt. Sein Vater Hermann Kafka war ein jüdischer Kaufmann, der trotzt seiner absoluten Autorität weder die Berufsperspektive noch die Beziehungen seines Sohnes beeinflussen konnte. Gerade deshalb beschäftigte sich Franz Kafka bis zu seinem späten Alter mit dem Konflikt zwischen den Abhängigkeitsgefühlen und Machtgedanken zu seinem Vater. Daraus entstand ein Brief, mehr als 100 Seiten lang an seinen Vater gerichtet. Dieser wurde von seinem engen Freund von Max Brod in den fünfziger Jahren veröffentlicht.

Frauen in und hinter Glaskasten

(Briefe an Felice und Milena)

Die Briefe, die er um sich selbst zu heilen schrieb, sind nicht nur an seinen Vater gerichtet. Sondern auch zwei Frauen, die er wirklich liebte, bekamen durch seine Briefe mit, wie schwer seine tiefen Wunden sein Leben beeinflussten. Tiefe Wunden, die mit Leid, Kummer und Angst das einzige selbstverständliche Gefühl „Liebe“ verdunkelten/ erschwerten, hinderten ihn ebenfalls daran eine gelassene und glückliche Ehebeziehung einzugehen. Er verlobte sich zwei Mal mit Felice Bauers und zwei Mal trennte er sich von ihr. Auch die Liebesbeziehung zu der engagierten kommunistischen Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská war nur von einer kurzen Dauer. Milena übersetzte trotzdem seine in Deutsch geschriebene Erzählungen ins Tschechische. Sie blieben freundschaftlich bis zu seinem Tod in Kontakt. Seine Briefe in originaler Handschrift liegen im Museum in einem Glaskasten. Die beiden Frauen sind bildlich (im Stehen) hinter einem Glas präsentiert.

Kafka's erschreckende Weltperspektive

(Die Verwandlung, 1912)

Der weltbekannte Schriftsteller stellt seine Verzweiflung über die ganze Welt in seinen Erzählungen, Briefen und Romane in komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen – meist auch rätselhaft-dar. Manchmal benutzt er dafür seine literarische Begabung ähnlich wie ein Messer. Vor einer Kammer bewegen sich zwei Frauen wie zwei Schatten im Dunkeln.

- Es tut weh...

sagt eine junge Frau zu der anderen. Die andere stimmt zu und sagt:

- Ich konnte es mir nicht weiter ansehen.

Ich nehme meine mutigen Hände aus meiner Jackentasche, hole tief Luft und lehne meine Stirn an das Fensterglas, in der ich dargestellte Bilder und Schriften ansehen kann. Bilder bewegen sich, während die Buchstaben bluten. Plötzlich entferne ich mich mit Schreck vom Fensterglas. Auf einem nackten Oberkörper entdecke ich erst einen Messerschnitt. Der Schnitt vergrößert sich von selbst und aus ihm strömen die blutenden Buchstaben heraus, um den folgenden Satz, der noch schrecklicher ist als der Messerschnitt, zu bilden:

„Ehre deinen Vorgesetzten“

Bewusst und gleichzeitig unbewusst denke ich an das kapitalistische Arbeitsleben. Der Mensch gibt seine Seele und verwandelt sich zu einem Käfer. Die Verwandlung. Die Verwandlung schrieb er 1912, wurde jedoch erst im Dezember des Jahres 1915 in Buchform veröffentlicht. In den ersten Jahren des ersten Weltkrieges.

Türhüter an der Tür:

In den ersten Jahren des Ersten Weltkrieges fing Franz Kafka an, seinen berühmten Roman Der Prozess zu schreiben, in dem er die Ohnmacht des Menschen gegenüber der mächtigen Bürokratie beschrieb. Im Sommer 1914 wohnte er zum ersten Mal getrennt von seinen Eltern und schrieb zügig in zwei Monaten ca. 200 Seiten Manuskripte, bis er im Januar 1915 eine Pause einlegte. Im November 1914 schrieb er folgende Sätze über seinen Schreibprozess:

Ich kann nicht mehr weiterschreiben. Ich bin an einer endgültigen Grenze, vor der ich vielleicht wieder jahrelang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen“

Tatsächlich fing er an, eine neue Geschichte zu schreiben mit dem Titel „In der Strafkolonie“.

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Nachdenklich spaziere ich durch die düsteren Straßen seiner Innenwelt und versuche in mehreren Fragmenten, Briefe, Zeichnungen und dargestellten Filmen zu verstehen, wo sich der armselige Mensch zwischen vorgegebenen Strukturen und Normen der Gesellschaft versteckt.

An einer Wand begrüßt mich endlich der Türhüter aus „ Der Prozess“. Eine bekannte Szene mit ihm (Türhüter) steht gerade in Form einer Türe vor mir. - Besser gesagt ich bleibe vor der fiktiven Tür stehen und spiele die Szene in meinem Kopf durch, während ich folgende Zeilen lese:

Vor dem Gesetz

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.

«Es ist möglich», sagt der Türhüter, «jetzt aber nicht.»

Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt:

«Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehen. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kam nicht einmal ich mehr ertragen.»

Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen.

Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schluss sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei:

«Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.»

Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter, und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unauslöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert.

«Was willst du denn jetzt noch wissen?» fragt der Türhüter, «du bist unersättlich. »

«Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?»

Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an:

«Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.»

Franz Kafka von Prozess

Prag, 28.10.2017