Die Organisation des Islamischen Staats (IS) und die politische Revolution im Nahen Osten

“Seit dem Aufkommen des organisierten Krieges pendelt man zwischen Angriffs- oder Verteidigungs-Kriegen. Generell kann man sagen, wenn die Verteidigung stark ist, gewinnt die Zivilisation, wenn aber der Angriff stark ist, gewinnt die Barbarei."(B. Russell)

Der Islamische Staat (IS) wird eine Weile im Nahen Osten an der Tagesordnung bleiben und uns beschäftigen. Deshalb ist eine soziologische Analyse des IS-Phänomens erforderlich. Was ist IS (Islamische Staat)? Es gibt sehr unterschiedliche Meinungen darüber. Nach Ansichten des ehemaligen NSA Mitarbeiters Edward Snowden wurde der Islamische Staat (IS) vom Geheimdienst MOSSAD gegründet, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Es wird auch die These vertreten, dass der IS nichts anderes ist, als ein trojanisches Pferd des USA-Imperialismus, um die zahlreichen ethnischen und religiösen Gruppen gegeneinander auszuspielen. Der kanadische Wirtschaftswissenschaftler, Prof. Michel Chossudovsky, der durch globalisierungskritische Publikationen bekannt ist, hält die IS-Rebellen für eine Hilfstruppe der US-Geheimdienste, die den Irak in drei Teilstaaten zerschlagen soll.

Ein amerikanischer politischer Kommentator in einem Interview mit Press TV behauptet, dass Hunderte von US-Soldaten und CIA-Agenten in den Rängen von IS kämpfen. Nach den Medienberichten in USA sollen sich rund 300 amerikanische Staatsbürger der IS-Organisation im Irak und in Syrien angeschlossen haben. DeBar, ein Anti-Kriegs-Aktivist und Radiomoderator in New York, behauptet, dass es viel mehr als 300 amerikanische IS-Kämpfer geben würde.

Einige kurzsichtige Journalisten im Westen behaupten, dass der IS ein Produkt der Unterdrückung der Sunniten durch die schiitische Irak-Regierung sei, der für die Rechte der Sunniten kämpft. Nach den oberflächlichen Berichten einiger Medien im Westen wird der IS eher als fanatische, brutale, gnadenlose, mörderische islamische Terrororganisation betrachtet. Nach einigen Kolumnisten ist der IS aus der Situation hervorgegangen, als ein politisches und ideologisches Vakuum nach dem Zusammenbruch einiger arabischen Nationalstaaten (Irak usw.) entstanden ist.

In einigen der linken Bewegungen in der Türkei gibt es Meinungen darüber, dass der IS ein Produkt des Kolonialismus des Westen sei. Die kurdenfeindlichen Nationalisten in der Türkei behaupten, das Ziel der USA sei die Gründung Groß-Kurdistans unter der Kontrolle der USA. Viele linke Organisationen und die Kurdische Bewegung sind der Meinung, dass das Ziel der Angriffe durch die mörderische Terrororganisation IS die Revolution in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) sei. Denn diese Revolution versucht auf der Grundlage einer Basisdemokratie eine multi-nationale und -religiöse Gesellschaft zu gründen und schreibt sich den Aufbau einer NICHTNATIONALEN GESELLSCHAFT auf die Fahnen.

Nach meiner Meinung beinhalten alle diese Ansätze ein Stück Wahrheit, aber für sich genommen sind sie zu einseitig. Wie Hegel sagte, kann jede Meinung ein Argument finden, sich zu rechtfertigen. Allerdings sagte Hegel: "Das Wahre ist das Ganze“ " Daher ist für die Analyse des IS-Phänomens ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich. In der Tat ist das IS-Phänomen ein komplexes Phänomen. Daher müssen wir uns vor eindimensionalen Ansätzen hüten.

Um die Schwäche der Einseitigkeit der Ansätze zu zeigen, wollen wir zunächst einige Ansätze unter die Lupe nehmen. Ein verbreiteter Ansatz geht auf die These des ehemaligen NSA Mitarbeiters Edward Snowden zurück. Laut einem Bericht der Tageszeitung Milliyet wird folgendes behauptet: nach Dokumenten des US-Geheimdienstes NSA, die Edward Snowden öffentlich gemacht hat, ist der »Islamische Staat« im Irak und in Syrien ursprünglich von Geheimdienstagenten aus Israel, USA und Großbritannien gegründet worden, um die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Der »Islamische Staat« sei Teil einer Strategie für den Mittleren Osten, werde »Hornissennest« genannt und habe das Ziel, die Staaten (Irak, Syrien, Libanon usw.) zu destabilisieren und sie in „ethnische und religiöse kleine Staaten“ aufzuteilen. Diese Kleinstaaten sollen sich feindselig gegenüber stehen. Mit dieser Strategie sollte einerseits die Sicherheit von Israel gewährleistet werden, andererseits sollte die leichte Kontrolle dieser kleinen Staaten durch Geheimdienste möglich sein.

Laut der iranischen Presse wurde der Führer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi im Jahr 2006 getötet. Der jetzige Führer sei kein Araber oder Muslim, sondern ein jüdischer Geheimdienstagent.

Die Behauptungen von Edward Snowden enthalten natürlich ein Stück Wahrheit. Diese Behauptungen können durch folgende Fragen unterstützt werden:

Warum unterstützt der Islamische Staat (IS) die palästinensische Sache nicht?

Warum kämpft der IS nicht gegen Israel oder gegen USA?

Diese Fragestellungen könnten der These von Snowden Recht geben. Diese These versucht, durch eine oberflächliche Geheimdienst-Logik das IS-Phänomen zu erklären, nicht aus soziologischer Sicht. Sie kann leider die Frage nicht beantworten: warum es solche fanatischen religiösen Organisationen in dieser Dimension nicht in Europa gibt?

Die häufigste Ansicht, die in den westlichen Medien zu lesen und zu hören ist, ist die Ansicht, dass der Islamische Staat (IS) eine terroristische Organisation sei. Diese Ansicht könnte auch Argumente finden, die sich durch den IS-Terror rechtfertigen, unterschätzt aber einerseits den ideologischen und politischen Einfluss der IS-Bewegung auf die jungen Leute in der ganzen Welt, andererseits verschleiert sie die Tatsache, dass die westlichen Staaten Jahrzehnte reaktionäre Staaten wie Saudi Arabien und Katar unterstützt haben.

Eine weitere wichtige Ansicht von vielen kurdischen Kolumnisten und türkischen Intellektuellen ist die folgende: die Kurden haben in Rojava (Nord Syrien) eine Revolution vollzogen und versuchen im Nahen Osten, wo eine Vielzahl von religiösen und nationalen Identitäten leben, eine multi-nationale, multi-religiöse Gesellschaft zu gründen. Dieses Konzept wird auch als eine Demokratische Nation bezeichnet. Nach dieser Ansicht ist die Rojava-Revolution eine neue Art der Revolution des 21. Jahrhunderts, denn diese Revolution versucht, den nationalen Staat zu überwinden. Auf basisdemokratischer Grundlage wird eine neue alternative Gesellschaft aufgebaut. Dass diese Basisdemokratie ein Vorbild für die anderen Länder im Nahen Osten sein könnte, versetzt die Herrschenden in Furcht und Angst. Daher ist die Rojava Revolution ein Ziel von reaktionären Angriffen geworden. Das Ziel aller reaktionären Kräfte (die USA, alle anderen westlichen imperialistischen Staaten, die reaktionären Kräfte in der Türkei und im Nahen Osten) ist es, die Revolution in Rojava zu zerstören. Der IS wird als barbarisches Mittel gebraucht, um diese Revolution im Nahen Osten zu stoppen.

Diese Ansicht kommt meines Erachtens der Wahrheit am nächsten, jedoch ist sie auch einseitig und vermag nicht, zwei wichtige Sachverhalte aus soziologischer Sicht zu erklären:

Erstens, sie beachtet die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Ursachen der IS-Organisation nicht.

Zweitens, sie hat die Schwierigkeit zu erklären, warum die USA und andere Staaten in dieser “Anti“-IS-Koalition gegen die IS- Stellungen Luftangriffe durchführen.

Darüber hinaus schenkt diese Ansicht den sozialen Unruhen im Nahen Osten sowie der Krise und der Reformbedürftigkeit des Islam keine Beachtung.

WAS IST DER ISLAMISCHE STAAT (IS)

Der Islamische Staat (IS) ist ein komplexes Phänomen und muss in einem breiten Spektrum von Aspekten analysiert werden. Es ist erforderlich, alle möglichen objektiven und subjektiven Bedingungen zu analysieren, wenn man das IS- Phänomen verstehen und gegen dieses einen erfolgreichen Kampf führen will. Hier werde ich leider keine detaillierten und konkreten Informationen über die Strukturen der IS-Organisation liefern können. Deshalb werde ich mich auf vier Aspekte beschränken, die für die Analyse des IS-Phänomens notwendig sind:

  1. Im Nahen Osten haben sich im Laufe von Jahrhunderten wirtschaftliche, politische, moralische, ideologische und soziale Probleme aufgestaut. Der Nahe Osten wurde in seiner Geschichte von vielen Unruhen erschüttert. Die Kreuzzüge, Kolonialisierung und die Nichtreformfähigkeit des Islam durch die Verlagerung der Handelswege nach Europa haben Spuren hinterlassen. Ohne Berücksichtigung dieser Tatsachen kann das IS-Phänomen nicht in allen seinen Dimensionen verstanden werden. Dieser erste Aspekt wird leider bei der Analyse der Probleme im Nahen Osten oft nicht berücksichtigt.

  2. Der zweite Aspekt basiert auf der Außenpolitik des westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Ohne die Außenpolitik des Europäischen Kolonialismus und Imperialismus, besonders in der Zeit (1880-1914) und ohne die Außenpolitik des USA-Imperialismus nach dem 2. Weltkrieg können die Probleme im Nahen Osten nicht ausreichend erklärt werden. Hier beschränke ich mich auf die Außenpolitik der USA, die in zwei Perioden unterteilt werden kann. a) die Periode 1950-1990; b) die Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 bis heute.

a) Während des 2. Weltkriegs wurde der Nationalsozialismus in Deutschland besonders durch die Rote Armee der Sowjetunion zerschlagen. Der Sieg der Sowjetunion hat in breiten Bevölkerungskreisen der gesamten Welt eine Sympathie für den Sozialismus ausgelöst. In einigen arabischen Ländern kam es unter dem Banner "arabischer Sozialismus“ zu einer “nationalen arabischen Flutwelle“ und zu revolutionären Erhebungen. Die US-Außenpolitik hat in der arabischen Welt eine Doppel-Strategie verfolgt, um den arabischen Sozialismus unter seine Kontrolle zu bringen. Einerseits hat die USA versucht, die nationalen demokratischen Revolutionen abzuwürgen, andererseits den Klassenkampf der Arbeiterklasse zu verhindern. Der Nahe Osten war für die USA strategisch sehr wichtig. Denn für den wirtschaftlichen Wiederaufbau von Europa nach dem Krieg war das Öl im Nahen Osten lebenswichtig, um den Kapitalismus weiterleben zu lassen. Der Sieg des Sozialismus in Europa würde das Ende des USA-Imperialismus bedeuten, d.h. die USA würde als eine kapitalistische Insel im sozialistischen Meer da stehen. Ohne Kontrolle des Nahen Ostens wäre die Wiederherstellung des Kapitalismus in Europe nicht möglich gewesen. Deshalb haben die USA und der Westen versucht, die arabische Revolution zu kontrollieren und sie zu erodieren, indem sie durch verschiedene Mittel eine kleine Schicht von Politikern und Bürokraten korrumpierten, um sie für den Westen zu gewinnen. Die Ölreserven standen nun unter westlicher Kontrolle bzw. wurden durch einheimische Kräfte kontrolliert, die dem Einfluss und der Macht des Westens freundlich gegenüber standen.

Diese Politik der USA hatte zur Folge, dass die arabischen Staaten unter Kontrolle der USA gerieten. Unter diesen Umständen hatten es diese arabischen Nationalstaaten versäumt, den Erwartungen des eigenen Volkes gerecht zu werden. Dies hat dazu geführt, dass der arabische Sozialismus seinen ideologischen und politischen Einfluss auf das arabische Volk verloren hat. Der arabische Sozialismus konnte die "wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme“ nicht in den Griff bekommen. Darüber hinaus haben die USA und der Westen immer die Diktaturen und den dogmatischen Islam als Bollwerk gegen den Kommunismus unterstützt. Deshalb hat sich im Volk ein Hass gegen die USA und gegen den Westen aufgestaut, der nun in religiöser Form zum Ausdruck kommt.

Ferner hat die Revolution in den arabischen Ländern („Arabische Frühling“) die Erwartungen der Massen nicht erfüllen können. Der Misserfolg der arabischen Aufstände hat zusätzlich einen Beitrag für die Entstehung des Hasses geleistet.

Die USA und der Westen versuchen, diesen Hass und den berechtigten Aufruhr gegen das imperialistische System zu unterdrücken und ggf.in die Bahnen ihrer Interessen zu lenken.

b) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versuchen die USA im Zuge der neoliberalen politischen Strategien den Nahen Osten neu zu gestalten. Der Neoliberalismus zielt einerseits darauf ab, den Nahen Osten für das globale Kapital zu öffnen, andererseits die Globalisierung der militärischen Macht durch die Expansion der NATO voranzutreiben. Die USA treibt eine Politik der „Balkanisierung der Arabischen Republiken Irak und Syrien“.

Die USA wollen mit einer Klappe fünf Fliegen schlagen:

  1. Die Energieressourcen zu kontrollieren.

  2. Die Trends und Entwicklungen in Keim zu ersticken, die als Alternative zum Kapitalismus entstehen könnten.

  3. Die Sicherheit Israels zu gewährleisten.

  4. Ein neues Feindbild zu schaffen, den Islamischen Terrorismus zu erfinden und der Weltöffentlichkeit den Islam als eine neue Bedrohung und Gefahr für den Weltfrieden zu zeigen. Durch die potentielle Terrorgefahr eine totale Militarisierung der eigenen Gesellschaft in den USA und in anderen westlichen Staaten voranzutreiben.

  5. Die Durchführung der Strategien (die in den USA entwickelt wurden), anderen Staaten wie dem türkischen Staat oder den anderen Kräften wie dem IS zu überlassen, d.h. Terrorismus im Auftrag der USA durchführen zu lassen. (Die Gründe für diesen Strategiewechsel sind zweierlei: die wirtschaftlichen Kosten des Kriegs sind sehr hoch; die USA haben in Irak und Afghanistan viele Soldaten verloren.)

  6. Der dritte Aspekt, der bei der Analyse der IS-Organisation berücksichtigt werden muss, ist der folgende: nachdem der USA-Imperialismus den Irak und andere arabische Staaten angegriffen und Krieg geführt hat, betrachten die arabischen Völker den Islam als Befreiungsideologie vom westlichen Imperialismus, weil der arabische Sozialismus keinen großen Erfolg gebracht hat. Der IS, der einen Anspruch auf die absolute Deutungshoheit stellt, hat insbesondere bei Jugendlichen große Sympathie. Der Islam kann jedoch keine Lösung für die Probleme sein, denn der Islam hat keine Reformation erlebt, wie das Christentum. Zwar haben im Islam im 12.-14. Jahrhundert Versuche stattgefunden, den Islam zu reformieren, aber sie konnten nicht weitergeführt werden. Die islamischen Gelehrten Ibn Ruschd (1126-1198), Ibn Haldun (1332-1406) hatten den Versuch unternommen, den Koran nicht dogmatisch zu interpretieren. Ibn Ruschd, als Naturwissenschaftler, Philosoph und Theologe, vertrat die Auffassung, dass Verstand und Dogma nicht zu vereinbaren sei, auch wenn der Verstand nicht im Widerspruch zum Glauben steht. Ibn Haldun kann als Vorgänger des historischen Materialismus betrachtet werden. Leider wurden die Versuche dieser Gelehrten nicht fortgesetzt. Die Gründe zu erklären, würde diesen Rahmen sprengen. Es hängt allerdings damit zusammen, dass sich die Handelswege und die wirtschaftliche Entwicklung vom Osten nach Westen verschoben hatten.

Was wir heute im Nahen Osten erleben, deutet darauf hin, dass sich der Islam in einer Sinnkrise befindet, und dass der Islam eine Reformation erleben und sich erneuern muss. Die Auseinandersetzungen zwischen den religiösen Volksgruppen Schiiten und Sunniten sind in der Tat ein Ausdruck von Widersprüchen der wirtschaftlichen Interessen, aber an der Oberfläche erscheinen sie als religiöse Kämpfe. (Mein Freund Kadir Konuk hat meine Auffassung über die Notwendigkeit der Reformation im Islam als Illusion bezeichnet). Seiner Meinung nach würde dies als eine Forderung der Atheisten aufgefasst werden und wieder den "Cihat“ heraufbeschwören. Trotz der Bemerkung meines Freundes werde ich bei meiner Auffassung bleiben. Mir ist klar, dass die Reformation einer Religion gewisse gesellschaftliche Voraussetzungen erfordert.

  1. Wenn man das Phänomen Islamischer Staat (IS) und seine Angriffe gegen die Kurdische Stadt Kobane verstehen will, muss der vierte Aspekt berücksichtigt werden: Eines der wichtigsten ungelösten Problem ist die kurdische Frage. Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Kurdische Gebiet hauptsächlich zwischen den Ländern Irak, Iran und Türkei unterteilt. In diesen Ländern ist die Feindseligkeit gegenüber Kurden sehr verbreitet, am deutlichsten im türkischen Staat, denn die Kurden haben in Rojava (Nordsyrien) eine Autonomie, eine Selbstverwaltung gegründet, die von der Türkei als eine Gefahr betrachtet wird. Deshalb wird der IS, der die Stadt Kobane erobern will, von der AKP-Regierung geduldet und unterstützt. Die Regierung unter der Führung von Erdogan und Davudoglu verfolgt ein neues Projekt (Neuosmanismus). Mit diesem Projekt verfolgt die türkische Regierung das Ziel, im Nahen Osten eine regionale imperialistische Macht zu werden. Dafür soll das Regime von Assad gestürzt werden. Die Türkei versucht, die Organisation (Islamischer Staat), gegen Syrien und gegen die Kurden in Rojava zu instrumentalisieren.

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Ohne Anpruch auf eine vollständige Analyse des IS zu erheben, ist mir völlig klar, dass diese vier Aspekte weitere konkrete Untersuchungen erfordern, will man weitsichtige Perspektiven haben. Das Phänomen ausschließlich an der Oberfläche zu analysieren, ohne dessen Entstehungsgeschichte zu verstehen, würde uns keinen tieferen Einblick verschaffen. Meines Erachtens nach kann das Phänomen IS ohne diese Aspekte nicht wirklich verstanden werden.

Aufgrund dieser vier oben erwähnten Aspekte können einige Eigenschaften des IS folgendermaßen defiert werden.

  • Der Islamische Staat (IS) als Organisation ist ein Produkt der ungelösten ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Probleme, die sich auf reaktionäre Weise offenbaren.

  • Der IS ist gleichzeitig als ein Produkt der jahrhundertelang betriebenen imperialistischen Politik im Nahen Osten zu betrachen. Die Krise des im Rückgang befindlichen USA- Imperialismus findet ihren Ausdruck in der Unterstützung solcher religiösen Organisationen.

  • Der Zerfall des „Arabischen Frühlings“ hat einen Nährboden geschaffen als Sammelbecken für die Verlierer, die keine Perspektive hatten und nun im IS eine neue Perspektive sehen.

  • Der IS hat eine Ideologie: der Aufruf für das „Kalifat“ bietet eine Befreiungsideologie an, die auf viele Jugendliche eine Anziehungskraft ausübt.

  • Der IS ist der radikalste, reaktionärste Handlanger der USA, des Westens und der Türkei, der die ihm erlaubten Grenzen überschritten hat.

  • Der IS ist eine Enthüllung des nicht reformierten und sich in der Krise befindlichen Islams.

  • Der IS ist eine konzentrierte Form der Feindseligkeit gegenüber den Kurden und der Rojava Revolution.

Die meisten Artikel, die ich bis jetzt gelesen habe, leiden unter Einseitigkeit. Hier möchte ich die Krisen hervorheben, denen man zu wenig Aufmerksamkeit schenkte. Erstens: die ökonomische, politische und soziale Krise; zweitens: die moralische und ideologische Krise, die der Islam durchmacht. Bei der Analyse des Phänomens IS müssen nicht nur die von außen einwirkenden dynamischen Faktoren, wie imperialistische Politik usw. sondern auch die inneren Faktoren berücksichtigt werden. Das Phänomen IS ist gleichzeitig das Ergebnis dieser beiden großen Krisen. Der IS ist eine außergewöhnliche Organisation, weil er sich als Staat proklamiert. Es ist wichtig, auf diese zwei Arten von Krisen hinzuweisen, denn sie zeigen, wie wichtig es ist, im Nahen Osten neue Paradigmen und neue Perspektiven zu entwickeln. Es besteht die Notwendigkeit einer politischen Revolution zur Demokratisierung des Nahen Ostens.

WARUM LUFTANGRIFFE DURCH DIE USA UND IHRE KOALITIONSPARTNER?

Um das wahre Gesicht des USA-Imperialismus zu enthüllen, reicht das Wissen, dass die USA jahrelang in Lateinamerika, in Afghanistan usw. alle Terrororganisationen unterstützt haben. Einerseits bezeichnen die USA und einige imperialistische Staaten des Westens die Assad Regierung als Terrorregime, andererseits unterstützen sie Saudi-Arabien, welches eine absolutistische Monarchie ist, in der Demokratie und Menschenrechte keine Rolle spielen.

Oben wurde erwähnt, dass der IS als "Trojanisches Pferd" der USA fungiert. Hier stellt sich die Frage: Warum werden dann die Luftangriffe gegen die IS-Stellungen durchgeführt? Ist das nicht ein Widerspruch? Auf den ersten Blick kann es so erscheinen, jedoch bei näherer Betrachtung ist dies kein Widerspruch. Meiner Auffassung nach gibt es drei Gründe, warum die USA und die Koalition Luftangriffe durchführen:

Erstens: entgegen den Erwartungen, dass die Stadt Kobane fallen würde, hat sich der bewaffnete Widerstand der Kurden in der belagerten Stadt Kobane als beharrlich erwiesen. Weltweit haben Solidaritätsdemos für Kobane stattgefunden. Das ist ein wichtiger Grund, warum die USA sich gezwungen sahen, gegen den IS vorzugehen. Als der IS die Stadt Mosul besetzte, haben die USA nichts unternommen.

Zweitens: Aufgrund des anhaltenden Widerstands in Kobane wollen die USA und die anderen Koalitionsstaaten gezwungenermaßen vor der Weltöffentlichkeit das „humane“ Gesicht nicht verlieren.

Drittens: die USA und die Koalition wollen sich einerseits als "Beschützer der Kurden" zeigen; andererseits versuchen sie durch die Unterstützung mittels der Luftangriffe, die „extrem“ radikal-demokratische Seite der kurdischen Bewegung zu schwächen und eventuell die prowestlichen Tendenzen in der kurdischen Bewegung zu fördern. (Aus der Geschichte des 2. Weltkriegs ist bekannt, dass der „gemeinsame Kampf“ der USA und England mit der Sowjetunion gegen den Hitler-Faschismus liberale Tendenzen in der Sowjetunion gefördert haben).

Der ehemalige Syrien Botschafter Robert Stephen Ford soll in einer Rede, die an die Presse durchgesickert war, gesagt haben: “Unser Interesse ist es, den Krieg zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen im Nahen Osten fortzusetzen, egal wie lange es dauert. Unabhängig davon, wer gewinnt oder verliert: Wir gewinnen immer.“

Durch den andauernden beharrlichen bewaffneten Widerstand in Kobane wurden in der deutschen Presse kritische Stimmen laut. „Die Welt“ hat am 11. Oktober 2014 folgende Schlagzeile gebracht: „Wir sind Weltmeister im Massaker-Zuschauen“ Solange der Widerstand in Kobane andauert, werden diese Stimmen noch lauter.

Die USA und die Koalition standen vor einem Dilemma: Wenn Kobane fällt, würde dies als moralische und politische Niederlage der USA und des Westens empfunden werden; Wenn jedoch der bewaffnete Widerstand gewinnt, würden sich die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten zugunsten der Organisation PKK verschieben. Die USA und ihre Bündnispartner werden versuchen, den bewaffneten Widerstand zu Konzessionen zu zwingen.

Der andauernde Widerstand in Kobane trägt Früchte: zum ersten Mal hat sich die türkische sozialistische Bewegung so massiv mit der kurdischen Bewegung solidarisiert und sie unterstützt. Einige türkische sozialistische Gruppen haben sich sogar dem bewaffneten Widerstand angeschlossen. Der Sieg des bewaffnen Widerstands in Kobane wird einerseits die Beziehung zwischen der sozialistischen Bewegung und der kurdischen Bewegung stärken - die Stärkung der Beziehung zwischen beiden Bewegungen ist enorm wichtig. Andererseits wird dieser Sieg die AKP-Regierung in der Türkei schwächen. Es kommt nun für die kurdische Befreiungsbewegung und die Linke Organisation in der Türkei darauf an, eine richtige Strategie zu entwickeln, um durch die Demokratisierung der Gesellschaften im Nahen Osten viele politische Probleme und auch die kurdische Frage zu lösen. Es darf nicht vergessen werden, dass eine richtige Strategie eines der wichtigsten subjektiven revolutionären Elemente darstellt. Seitdem die kurdische Bewegung sich immer mehr von dem nationalen Staatsgedanken entfernt, entwickelt sie sich zum Bindeglied der Revolution im Nahen Osten.

Die Notwendigkeit einer politischen Revolution im Nahen Osten wird immer dringender. Daher müssen die in diesem Zusammenhang zu erwartenden Probleme diskutiert werden. Politische Revolution im Nahen Osten erfordert drei Bedingungen. Erstens: Nation neu zu definieren, nämlich eine Definition zu finden ohne auf Abstammung, Kultur, Religion und Sprache Bezug zu nehmen; zweitens: die Träger der politischen Revolution zu identifizieren; drittens: eine zielbewusste, entschlossene Organisation aufzubauen, die die politische Revolution führen kann. Die Geschichte hat bewiesen: ohne eine entschlossene Organisation scheitern die Revolutionen. Die Frage der politischen Revolution und das Projekt „Demokratische Nation“ wird unten noch erklärt.

DIE KURDISCHE FRAGE UND DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN AKP-REGIERUNG UND DER IS-ORGANISATION

In meinem Artikel, der vor fünf Jahren in der "Özgür Politika" unter dem Titel "Fiasko der Anstrengung der AKP-Regierung für die Lösung der kurdischen Frage“ veröffentlicht wurde, hatte ich geschrieben: „Die Sturheit und irrationale Politik des türkischen Staates bezüglich der Kurdenfrage hat die Türkei in die heutige Lage gebracht. Ohne die politischen Entwicklungen, die der hartnäckigen und irrationalen Politik der AKP-Regierung ein Ende machen wird, kann das Kurdenproblem nicht gelöst werden. Die konservative AKP-Regierung wird keinen Mut haben, die „rote Linie“ des türkischen Staates zu überschreiten.“

Ich hatte in meinem Artikel noch darauf aufmerksam gemacht, dass die AKP-Regierung ihre Pläne, die kurdische Freiheitsbewegung zu liquidieren, nicht aufgegeben hat. Die AKP wird nun versuchen, unterschiedliche Werkzeuge und Konzepte zu benutzen, um die Liquidation der kurdischen Bewegung unmerklich voranzutreiben.

Nun stellt sich die wichtige Frage: wie kann das Kurdenproblem in der Türkei gelöst werden?

Der Nationalstaat hat heute versagt und kann in einer multi-nationalen und multi-religiösen Gesellschaft wie in der Türkei keine Lösung u.a für das Kurdenproblem sein. In der Türkei gibt es Voraussetzungen für einen neuen Typ der Nation, die sich von der Vorstellung des Nationalstaats lossagen könnte. Dieser neue Typ der Nation wird als Demokratische Nation bezeichnet.

DEMOKRATISCHE NATION IST EINE VORAUSSETZUNG FÜR DIE POLITISCHE REVOLUTION IM NAHEN OSTEN

Was ist unter der Demokratischen Nation zu verstehen? Zunächst geht es nicht um die Bezeichnung „Demokratische Nation“, sondern um die Idee, die hier erklärt wird.

Die „Demokratische Nation“ ist einen Versuch, die Nation im emanzipatorischen Sinne zu definieren; Die Idee vertritt die These, dass der Staat und die Nation sich voneinander trennen sollten und sich nicht überschneiden dürften. Aus der These gehen hervor: 1. Die Staatsbürgerschaft und die nationale Identität sind voneinander zu unterscheiden und dürfen nicht gleichgesetzt werden. 2. der Staat muss gegenüber jeglichen religiösen und nationalen Identitäten neutral sein. Der Staat darf keine Partei für irgendeine religiöse und nationale Identität ergreifen. Mit anderen Worten: Der Staat darf weder eine Religion noch eine Ethnizität haben.

Die „Demokratische Nation“ setzt einen Unterschied zwischen Staat und Nation voraus. Durch diese Unterscheidung ist die Möglichkeit gegeben, sich einen Staat ohne nationale Identität vorzustellen. Für viele Menschen ist ein Staat ohne nationale Identität nicht vorstellbar. Die Personen könnten sich natürlich zu einer nationalen Identität bekennen, aber das Bekenntnis eines Staats zu einer nationalen Identität bedeutet, dass der Staat gegenüber anderen nationalen Identitäten nicht neutral ist. Die Parteiergreifung des Staates zugunsten einer bestimmten nationalen Identität bedeutet zwangsläufig, dass der Staat nationale Minderheiten missachtet.

Um die Charakteristik der „Demokratischen Nation“ zu verdeutlichen, ist es hilfreich, Feudalismus und Kapitalismus zu vergleichen. Im Feudalismus hatten viele Staaten eine religiöse Zugehörigkeit. Beispielsweise war die katholische Religion die ideologische Grundlage für feudale Staaten. Religion im Feudalismus fungierte nicht nur als Glaube, sondern auch als eine Theorie des Staatsrechts, daher hat die Religion Gesellschaft und Staat beherrscht.

Im Feudalismus waren die Kirche (Religion) und der Staat vereint. Die bürgerliche Aufklärung kämpfte Hunderte von Jahren gegen Kirche und Religion. Dieser Kampf hat Früchte getragen und zu folgenden Resultaten geführt:

1) Der bürgerliche Staat wurde nicht auf göttlichen Geboten, sondern auf irdischen Gesetzen begründet. Die irdischen Gesetze wurden nach Regeln des Verstands gemacht. Dies bedeutet: Der Verstand wurde vom Dogma der Kirche und Religion befreit.

2) Als Folge der Aufklärung haben sich Staat und Kirche voneinander getrennt. Der Staat wurde verpflichtet, gegenüber jeglichen Religionen neutral zu sein. Dies bedeutete, dass die anderen Religionen vom Staat nicht verfolgt oder unterdrückt wurden.

3) Die Religion aus dem öffentlichen Bereich (Staat) wurde in die private Sphäre verbannt, die Religion als Glaube wurde zur Privatsache.

Nach Abschaffung des Feudalismus entstand eine neue Situation: An Stelle der Religion wurde die nationale bzw. ethnische Identität als ideologische Grundlage des Staates anerkennt. D.h. die Religion wurde ersetzt durch die nationale bzw. ethnische Identität, an Stelle der religiösen Identitäten wie „Katholiken“, „Protestanten“, „Moslems“, „Juden“ etc. wurden die nationalen bzw. ethnischen Identitäten wie „Türke“, „Kurde“, „Deutscher“, „Franzose“ usw. eingeführt. Die bürgerliche Aufklärung erreichte die Trennung von Staat und Religion, die sozialistische Aufklärung sollte die Trennung von Staat und Nation (nationaler Identität) erreichen.

Zusammenfassend charakterisiert sich die „Demokratische Nation“ durch:

1) Die Befreiung des Verstandes vom Dogma der Nationen bzw. der nationalen Identität.

2) Die Trennung des Staats von der nationalen Identität. D.h. der Staat darf die nationale Identität nicht als Grundlage seiner Verfassung anerkennen, um mit den Menschenrechten überein zu stimmen

3) Die Loslösung der nationalen Identität von staatlichen/öffentlichen Bereichen. D.h. die nationale Identität soll auf staatlicher/öffentlicher Ebene keine Rolle mehr spielen. Sie soll auf die Privatsphäre begrenzt werden. Die Individuen können eine nationale Identität besitzen, d.h. Menschen können sich als „Türken“, „Kurden“, „Deutsche“ verstehen, der Staat jedoch sollte nicht auf der nationalen Identität beruhen.

Mir ist klar, dass diese neue Denkweise nicht sofort zu begreifen ist und eine Herausforderung darstellt, da hierfür alte Denkmuster zu verlassen und neue zu erlernen sind. Stellen Sie sich vor, dass aus der deutschen Verfassung der Begriff „Deutsch“ als nationale Identität durch einen anderen Begriff „Bürger von Deutschland“ ersetzt würde. Hinter dieser kleinen Veränderung steckt eine ganz andere Denkweise, so dass der Bezug auf die nationale Identität an Bedeutung verlieren würde.

Also: die „Demokratische Nation“ stellt die Monopolstellung des Staates über die nationale Identität, die Kultur, die Sprache in Frage. Die „Demokratische Nation“ emanzipiert den Staat von der nationalen Identität und Zugehörigkeit. Ich plädiere dafür, dass die Monopolstellung des Staates über die Bereiche der Religion und Nationalität aufgehoben werden sollte.

Die „Demokratische Nation“ ist eine Übergangsphase in die Richtung, dass das Denken der Menschen vom Dogma der Nationen befreit wird und dass die Nationen sich global in der menschlichen Gattung aufheben könnten. Wie die Physik sich als Wissenschaft entwickeln konnte, nachdem sie sich von der Theologie emanzipiert hatte, wird der Mensch sich humanistischer entwickeln, wenn er sich vom Dogma der Nationen und des Nationalismus emanzipieren würde. Im Zeitalter der Globalisierung bedeutet die Parteilichkeit eines Staates für eine bestimmte nationale Identität eine Verengung des geistigen Horizonts und einen politischen, intellektuellen Rückschritt.